AUSZEIT. Ausstieg auf Zeit in Literatur und Film
Zusammen mit Stephanie Catani: Auszeit. Ausstieg auf Zeit in Literatur und Film. Baden-Baden: Ergon 2021.
Lange bevor die Covid-Pandemie im Jahr 2020 die Beschleunigungsdynamik unserer Gegenwart ausgebremst und der globalisierten Welt ganz heterogene, unfreiwillige Auszeiterfahrungen vermittelt hat, ist Auszeit als Konzept eines Ausstiegs auf Zeit fest im Erfahrungsraum der Gegenwart verankert. In den Literatur-, Film- und Medienwissenschaften spielt Auszeit bislang eine untergeordnete Rolle, obwohl zahlreiche mit der Idee der Auszeit einhergehende Vorstellungen (Abkehr vom Alltag, selbstreflexive Neujustierungen, Begegnungen mit dem Anderen, Ich-Erfahrung durch Welt-Erfahrung) als erz?hlerische Leittopoi die Literatur- und Filmgeschichte der Moderne pr?gen.
Der Band untersucht an einschl?gigen literarischen Texten, Filmen und Computerspielen, wie das spezifisch moderne Narrativ der Auszeit verhandelt wird. Die Beitr?ge nehmen Auszeit-Erz?hlungen von der Frühromantik bis zur Pop- und Game-Kultur der Gegenwart in den Blick: Ein vielstimmiger Beitrag zur erst noch zu schreibenden Kulturgeschichte der Auszeit.
Der Band geht zurück auf ein Panel, das Stephanie Catani (Universit?t Würzburg) und Friedhelm Marx (Universit?t Bamberg) im Rahmen des 26. Deutschen Germanistentages 2019 an der Universit?t des Saarlandes ausgerichtet haben.
Mit Beitr?gen von Sabina Becker, Juliane Blank, Stephanie Catani, Michael Eggers, J?rn Glasenapp, Roya Hauck, Nikolas Immer, Friedhelm Marx, Beatrice May, Jasmin Pfeiffer, J?rg Schuster und Julian Weinert.
Panel auf dem 26. Deutschen Germanistiktag, 22. bis 25. September 2019 in Saarbrücken
CFP für den Themenschwerpunkt 4: Zeit als Thema und Motiv
Panelleitung: Prof. Dr. Friedhelm Marx (Bamberg)
Prof. Dr. Stephanie Catani (Saarbrücken)
W?hrend im 21. Jahrhundert die soziologische, wirtschaftswissenschaftliche und berufspraktische Besch?ftigung mit dem Modell der Auszeit boomt,1 spielt ihre Erforschung als Motiv der Literatur-, Film- und Mediengeschichte bislang eine untergeordnete Rolle. Eine Kulturgeschichte der Auszeit ist noch nicht geschrieben, – obwohl zahlreiche mit der Idee der Auszeit einhergehende Vorstellungen (Abkehr vom Alltag, selbstreflexive Neujustierungen, Begegnungen mit dem Anderen, Ich-Erfahrung durch Welt-Erfahrung) als erz?hlerische Leittopoi die Literatur- und Filmgeschichte der Moderne pr?gen.
Das Konzept der Auszeit ist offenbar an genuin moderne Erfahrungen der Fremdbestimmung, der Arbeitsüberlastung, des Zeitdrucks gekoppelt. Sp?testens seit dem 18. Jahrhundert wird es literarisch relevant. Das Spektrum literarisch imaginierter Ausstiegserz?hlungen reicht von Goethes Werther-Roman über Thomas Manns Zauberberg, Peter Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Sybille Bergs Die Fahrt (2007) bis zu den Sieben N?chten (2018) von Simon Strau?. R?umlich verbindet sich die Auszeit meist mit einem Rückzug in die Natur oder einem Auszug in fremde Erfahrungsr?ume, wo die Befreiung von den Zumutungen des Alltags und – im Falle künstlerischer Protagonisten – die Rückgewinnung der Kreativit?t in Aussicht steht. Eine besondere Zuspitzung erhalten Figurationen der Auszeit im Feld der postkolonialen Gegenwartsliteratur durch die ?literarische Kategorie des kolonialen Aussteigers“2. Texte wie Felicitas Hoppes Verbrecher und Versager (2004), Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet (2009) oder Christian Krachts Imperium (2012) rücken Figuren in den Mittelpunkt, deren Charakteristik gerade darin liegt, ?starre Ordnungen infrage zu stellen und normative Grenzziehungen zu irritieren, zu verschieben und zu überschreiten“3.
Filmgeschichtlich einschl?gig ist in diesem Zusammenhang das Genre des ?Road-Movie‘, das die Idee eines Ausstiegs auf Zeit mit (rauschhaften) Prozessen der Selbstfindung, dem Mehrwert interkultureller Begegnungen und radikalen Naturerfahrungen verbindet. ?hnliches gilt für Sonderformen des Abenteuerfilms, die das Individuum jenseits zivilisatorischer Ordnungen in einem zwischen Bedrohung und Befreiung changierenden Raum der Natur inszenieren (Into the Wild, 2007; Wild, 2014). Eine genderspezifische, mitunter triviale Engführung erfahren filmische Auszeit-Erz?hlungen dort, wo sie die weibliche Wanderlust stereotyp als Resultat einer gescheiterten Partnerschaft und fehlender Selbstverwirklichungsstrategien inszenieren (Eat, Pray Love, 2007; Under the Tuscan Sun, 2003).
Gemeinsam sind diesen literarischen wie filmischen Auszeit-Erz?hlungen Konzepte der Ort- und Zeitlosigkeit: Topographische wie temporale Strukturen scheinen in der Auszeit au?er Kraft gesetzt oder neu generiert zu werden – es ist, bekennt stellvertretend Gustav Aschenbach vor seinem Aufbruch nach Venedig, die Sehnsucht nach ?etwas Stegreifdasein, Tagedieberei, Fernluft und Zufuhr neuen Blutes“, welche die Auszeit endlich stillen soll.
Das Panel untersucht literarische Texte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart sowie Beispiele aus der Filmgeschichte, die von der Auszeit erz?hlen, damit verbundene Prozesse der Selbsterfahrung und Identit?tsfindung nachzeichnen und R?ume in den Blick nehmen, an denen tradierte Gesetze der Zeit und des Ortes nicht mehr gelten sollen. Dabei ist zu fragen, wie sich die erz?hlte Auszeit zu jener anderen, fremdgetakteten Zeit verh?lt, die am Horizont auch dann noch pr?sent bleibt, wenn aus dem Ausstieg auf Zeit ein Ausstieg für immer wird. Gelingt es den Aussteigern überhaupt, aus der Zeit zu fallen? Wie dr?ngt sich die Alltagszeit in die Auszeit hinein? Wie wird die Auszeit erz?hlerisch und filmisch gestaltet und inszeniert? Eingeladen zur Mitarbeit an dem Panel sind zum einen theoretische/terminologische Positionierungen, die sich an einer Definition der Auszeit, in Abgrenzung zu oder im Rückgriff auf inhaltlich verwandte Begriffe wie Exil, Reise oder Urlaub versuchen. Zum anderen sind konkrete Textlektüren erwünscht, die spezifische Beispiele aus der Literatur- und/oder der Filmgeschichte in den Blick nehmen, ggf. auch einer vergleichenden, intermedial orientierten Lektüre unterziehen.
1 Rajana Kersten: Von Auszeit und Alltag. Psychologische Untersuchung zum Erleben von Sabbaticals. Hamburg 2013; Thomas Hübner: Die Kunst der Auszeit: Vom Powernapping bis zum Sabbatical. München 2006
2 Julian Osthues: Literatur als Palimpest. Postkoloniale ?sthetik im deutschsprachigen Raum. Bielefeld 2017, S. 131-143.
3 Ebd., S. 131.